Rechnende menschliche Maschinen – ist unser Bild des chinesischen Unterrichts korrekt?

„Es ist unmöglich, eine reguläre Unterrichtsstunde in der Klasse zu verbringen!“ Ich blicke von meiner Schüssel mit Reis auf in Richtung meiner Gastmutter. „Ich habe mit der Lehrerin gesprochen. Diese müsste sich erst an einen vorgesetzten Lehrerkollegen und dann an den Direktor wenden. Auch dieser müsste erst einmal mit dem Bildungsverantwortlichen der Stadt reden und… das ist ein bisschen sehr viel Aufwand.“ Nun ja, nach meinen Erfahrungen mit dem Verlängern eines chinesischen Studentenvisums plus das Ausstellen eines Russlandvisum, hätte ich mir so etwas eigentlich fast denken können. Aber wirklich vermutet hatte ich es nicht.

Immerhin ist es selbst im bürokratischen Deutschland möglich, Besucher z.B. Freunde aus Südafrika oder Frankreich, einfach mit in den Unterricht zu nehmen. So lange sie nicht stören, dürfen diese sogar zwei Wochen bleiben. Auch in Frankreich konnte ich mich bisher stets in die Klassen mit hineinsetzen und auch in Afrika, wo ich als „Weiße“ den Unterricht immer ein wenig durcheinanderbrachte, machte es nichts aus und ein kurzes Fragen bei der Lehrern hat zumindest auf dem collège gereicht.
Wie kam diese Idee, in China wenigstens einmal einen Tag in die Schule zu gehen? Im Grunde genommen wollte ich das bereits vor meiner Ankunft in Asien. Ich finde es spannend, unterschiedliche Schulsysteme direkt live miterleben zu können. Mich interessiert, welche Unterrichtsmethoden die Lehrer anwenden, wie sich die Schüler verhalten usw. Konkret äußerte ich diesen Wunsch, als ich darum gebeten wurde, eine Präsentation über Deutschland, die deutsche Kultur, das deutsche Schulsystem und die Lernmethoden im Vergleich zu den Abläufen in China, und die Freizeitbeschäftigungen deutscher Kinder vorzustellen. Ich willigte ein und antwortete, dass ich das sehr gerne tun könne, ich mir aber für den Vergleich der Schulsysteme erst einmal vor Ort ein Bild davon machen müsse, wie denn der Unterricht hier in China vonstattengeht – ansonsten ist schließlich kein Vergleich möglich.
Nun erhalte ich diese Rückmeldung – na toll. Sie laden mich ein, um bei ihnen einen Vortrag über Deutschland zu halten, aber selbst habe ich nicht das Recht, etwas über deren Unterrichtskonzepte zu lernen? Das finde ich nicht gerecht. Schließlich möchte ich mich doch nur mit in die Klasse setzen und stillschweigend den Unterricht mitverfolgen. Nicht zu machen. Dann kann ich euch über die chinesische Art und Weise zu unterrichten, eben nur erzählen, was ich von Berichten meiner Gastkinder und chinesischen Freunde erfahre.
„Chinese Homework!“ ruft Judy mir gegenüber am Tisch sitzend erfreut aus und packt ihre Buntstifte auf den Tisch. Wieder muss sie als Hausaufgabe etwas malen. Und wieder hat sie viel Spaß dabei. Damit ist schon einmal das erste Klischee aus dem Weg geräumt: Chinesen sitzen nicht nur am Schreibtisch und rechnen stur Aufgaben oder füllen Lückentexte aus – tatsächlich darf auch hier in China Unterricht Spaß machen. Auch Coco macht einen ganzen Tag lang einen Spontanausflug: aufgrund des schönen Wetters fährt die ganze Klasse mit dem Bus auf einen Berg, veranstaltet dort ein Picknick und betrachtet die Bäume in der Umgebung. Zwei Wochen später wird der normale Unterrichtstag mit einem Fußballspiel samt Cheerleading ersetzt und als der eigentlich geplante Sporttag ins Wasser fällt, findet stattdessen nicht etwa normaler Unterricht statt, sondern es wird ein Film gezeigt und die Schüler dürfen spielen. Das geschieht sogar, wenn ein Lehrer einmal krank sein sollte. Klingt alles recht normal und nicht nach reinem Pauken. Auch die Schulbücher z.B. für die Vermittlung neuer Englischvokabeln sind nett gestaltet und mit Bildern und Geschichten gefüllt.
Dennoch ist die Schule alleine von der Uhrzeit ganz anders getaktet. Von der ersten Klasse bis zur neunten unterscheiden sich die Unterrichtszeiten kaum: jeden Tag beginnt der Unterricht um 8:15 und endet um 15:50. Unterbrochen werden die Stunden von einer zweistündigen Mittagspause, in der es neben dem Mittagessen die Möglichkeit gibt zu spielen, aber auch Sonderstunden für die gesamte Klasse stattfinden. Diese seien im Vergleich zum regulären Unterricht nur flexibler – soweit zumindest die Erklärung meiner Gastmutter.
Was jedoch auffällig ist: Ähnlich wie die Unterrichtszeiten scheint auch die Menge an Hausaufgaben alters- und klassenstufenunabhängig zu sein. Während ich die Hausaufgabenmenge für die ältere Tochter in jedem Fall als angemessen bewerte, weißen Grundschüler in Deutschland, die die zweite Klasse besuchen doch einiges weniger an Hausaufgaben auf als Judy.
Wie gesagt bestehen ihre Hausaufgaben zum Teil aber auch aus recht angenehmen Aufgaben. Auch werden mir stolz ab und an Videos gezeigt, wie Judy vor der Klasse kleine Power-Point Präsentationen hält – insgesamt scheint der Unterricht also recht interaktiv und vielseitig.
Auch in den Englischstunden, die ich erteile, soll ich nie Druck auf die Kinder ausüben. Schließlich sollen sie nicht den Spaß an der englischen Sprache verlieren. Dieser Aspekt ist jedoch nicht in allen Familien dermaßen ausgeprägt. Wie auch in Deutschland gibt es hier Unterschiede und es lassen sich sicher einige Kinder auffinden, die deutlich mehr unter Druck gesetzt werden.
Zudem: ich kann von dieser einen, wie in diesem Distrikt so oft betont ganz besonderen, modernen und teuren Schule nicht auf die chinesische Durchschnittslernweise schließen. Diese scheint nach Austausch mit einigen chinesischen Studenten tatsächlich auch heute noch recht trocken und eintönig zu sein.
Besonders sticht auch die große Klassengröße hervor. Selbst an dieser Topschule bestehen die Grundschulklassen aus 45 Kindern – sicher nicht gerade positiv für die Lernatmosphäre. In der High-School erhöht sich die Klassengröße im Durchschnitt auf 60 Schüler pro Klassenraum. Auf meine Nachfrage erhalte ich die Erläuterung, dass sich die Lehrer dann auf die 10 besten Schüler konzentrieren und der Rest schauen muss, wo er bleibt – meist mit von reichen Eltern bezahltem Zusatzunterricht – aber dazu gleich mehr.
Zudem sind die „Hobbies“ vieler Chinesen auffällig. Viele Kinder gehen nach der Schule nicht in einen Sportverein, sondern haben Kunstunterricht oder Zusatzmathekurse, oder sie lernen eine weitere Sprache, wie beispielsweise Japanisch. Aber auch das kann sicherlich Spaß machen – und wenn die Kinder von diesen Kursen nach Hause kommen und ihre Hausaufgaben bearbeitet haben steht grundsätzlich das Spielen mit den Geschwistern oder Freunden auf dem Plan. Chinesen werden also nicht nur getriezt.
Viel auffälliger finde ich, dass bei diesen Kursen erneut deutlich wird, wie unselbständig die Chinesen erzogen werden. Soll man etwas lernen, oder sich Stoff aneignen, den man in der Schule nicht verstanden hat, setzt man sich etwa nicht selbst hin, oder die Eltern unterstützen ein wenig, so wie das in Deutschland überwiegend der Fall ist, sondern sie werden gleich von Privatlehrern betreut. Die Eltern halten sich inhaltlich ohnehin sehr aus der Bildung heraus. Das einzige was sie tagtäglich tun müssen, ist die Hausaufgabenkontrolle. Für diese wird ihnen per WeChat ein Lösungsdokument zur Verfügung gestellt, nach dem sie alles abhaken oder korrigieren können. Auch im Hausaufgabenheft wird jeden Tag abgecheckt, ob auch nichts vergessen wurde und die Eltern müssen unterschreiben. Kein Wunder, dass Chinesen, wenn sie nach ihrem „Gaokao“ (einer Art Abitur) an die Universitäten kommen, erst einmal mit ihrer Selbstständigkeit überfordert sind. Auf einmal ist es ihre eigene Verantwortung, zu lernen. Es gibt nicht mehr die Eltern, oder Lehrer die einem genau sagen, dass man im Buch Seite 43-45 lesen und Aufgabe 2-6 bearbeiten muss. Doch einige modernere Schulen scheinen wie ich aus Gesprächen mit mehreren chinesischen Bürgern heraushöre, verstanden zu haben, dass auch die Selbstständigkeit eine wichtige Rolle spielt, und richten ihren Unterricht neu aus.
Interessant ist, dass gute Leistungen gesellschaftlich rein positiv bewertet werden. Sicher kommt wie auch in Deutschland unter den Schülern selbst Neid auf, aber die negative Bezeichnung „Streber“ kennt im Chinesischen kein Äquivalent. Strebsamkeit gilt hier ausschließlieh als gute Eigenschaft.
Besonders positiv überrascht bin ich von den Unterrichtspraktiken an der Universität in meinem Sprachkurs, der sich als sehr interaktiv herausstellte. Mehr dazu findet ihr im folgenden Artikel.
Als kleines Zwischenfazit lässt sich festhalten: Bei den Chinesen handelt es sich nicht um stumme Maschinen, die in Reihe und Glied an ihren Schultischen sitzen und stur ihre Aufgaben bearbeiten. Auch die Kinder hier sind wie überall auf der Welt aufgeweckt, aktiv und wissbegierig, manchmal aber eben auch faul, abgelenkt und unmotiviert – jeder in seinem eigenen individuellen Maße. Die breite Masse an Schülern lässt sich also in keinem Fall landesspezifisch pauschalisieren.
Besonders interessant ist zudem die Beziehung zwischen Lehrern und Eltern. Über Wechat stehen diese in engem Kontakt, Hausaufgaben, sowie die erwähnten Hausaufgabenkontrollen werden per WeChat an die Eltern versandt. Wenn das Kind in der Schule etwas vorträgt, wird ein Video gemacht und dieses direkt an die Eltern weitergeleitet. Auch Lob und Kritik wird den Eltern per WeChat in ausführlichen Textnachrichten mitgeteilt und die Eltern entschuldigen ihre Kinder über denselben Kanal, wenn diese einmal krank sein sollten, oder es andere Gründe dafür gibt, dass sie nicht in den Unterricht kommen können. Auch die Eltern sind oft in WeChat Gruppen organisiert, sodass ich sogar einmal eine Audioaufnahme englischer Wörter für diese Gruppe mache, damit alle Eltern, die der Englischen Sprache nicht mächtig sind, die neuen Vokabeln mit ihren Kindern lernen können.

Die Schule bestimmt den Wohnort
Es lässt sich nicht nur mit I Phone und PKW angeben (siehe „“LINK) sondern auch mit der Bildung der Kinder. Dies spielt hier eine ganz besondere Rolle und die Konkurrenz unter den Schulen und Universitäten ist für uns Deutsche fast unvorstellbar. Während man in Deutschland in der Regel dort lebt, wo es die Eltern nicht allzu weit bis zu ihren Arbeitsstellen haben und man die Schulen in der Umgebung erst danach auskundschaftet, läuft dies in China andersherum. In Deutschland gibt es höchstens regionales Konkurrenzgehabe unter den einzelnen Schulen. Es kommt durchaus vor, dass die eine Familie viel mehr von diesem einen Gymnasium hält, als die Nachbarsfamilie, z.B. aufgrund von einzelnen Bekannten mit schlechter Erfahrung. Oder man entscheidet sich für eine Schule, weil sie eine bestimmte Fächerkombination anbietet. In China jedoch gibt es für jede Stadt Rankings, in denen die Schulen verglichen werden. Die sehr gut abschneidenden Schulen sind dementsprechend teuer. Einen Platz bekommt man dort nur, wenn die Familie eine der Wohnungen kauft, die im der Schule zugeordneten Distrikt liegt. Möchte man seinen Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen muss man also Doppeltgutverdiener sein: Wohnung und teures Schulgeld. Für eine ganz besonders gute Schule wechseln Eltern auch nicht selten ihre Arbeitsstelle oder sie nehmen einen zweistündigen Pendelweg in Kauf.
Ein Vorteil der Wohnungszugehörigkeit zu den einzelnen Schulen jedoch, lässt sich nicht abstreiten: die Freunde wohnen alle in nächster Nähe. Man muss also nicht Mama- oder Papa-Taxi spielen, wenn die Kinder einmal einen Nachmittag gemeinsam verbringen möchten. Wobei – Chinesen verbringen nach meinem Eindruck unverständlich gerne unverständlich viel Zeit im Auto – dazu aber hier mehr.
Bei den Universitäten ist die Konkurrenz noch extremer. In Deutschland gibt es in jedem Studienfach zahlreiche sehr gute staatliche Universitäten. Auch hier existieren Rankings, die Beurteilung nach diesen spielt aber eher eine nebengeordnete Rolle. Das einzige Fach bei dem man dies zu spüren bekommt, ist meiner Meinung nach Medizin, in dem an den als „Top-Unis“ angesehenen Ausbildungsstätten stets besonders viele Bewerbungen eingehen. Aber dass nur die Mediziner im Anschluss eine gute Arbeitsstelle finden, die an diesen Unis ihren Abschluss erlangen, ist nicht der Fall. Dies ist in China jedoch keine Ausnahme. Daher ist auch der Druck auf die Schüler, die den „Gaokao“ ablegen, in etwa das chinesische Äquivalent zum deutschen Abitur, so hoch. Einige überlegen sich bei einer schlechten Note, sogar die Klasse noch einmal zu wiederholen, nur um nicht auf eine „Mittelklasse – Universität“ gehen zu müssen. Besonders das letzte Jahr sei laut Berichten mehrerer Chinesen die reinste Hölle. Sie führen das häufig auf die große Konkurrenz angesichts der hohen Bevölkerungszahlen Chinas zurück. Nicht wenige sagen, dass alleine von der Universität die Zukunft abhängt. In Deutschland gilt im Gegensatz dazu die allgemeine Aussage: Dein Abischnitt und die daraus folgende Ausbildungseinrichtung ist weniger entscheidend, als du zum Zeitpunkt deines Abiturs denkst – und es ist nicht gesagt, dass Schüler mit sehr schlechten Leistungen während der Schulzeit später nicht zu den erfolgreichsten Deutschen zählen werden.
Der hohe Druck, der während der letzten drei Jahre auf den Schülern lastet, wird mir besonders klar, als meine chinesische Nachbarin zugibt, ein internationales Internat zu besuchen, um genau diesen hohen Druck und die große Konkurrenz zu umgehen.
Neben den schulischen Leistungen, spielt ein Aspekt bei der Studienplatz- und Jobsuche noch eine wichtige Rolle: Beziehungen. Wenn man Beziehungen zu Freunden oder Verwandten aufzuweisen hat, die selbst Unternehmen leiten oder wichtige Positionen in der Politik innehaben, hat man schon fast einen guten Job garantiert und muss ihn nur noch antreten. Diejenigen, die sich unter den 90 Bewerbern befinden, die nach neusten Zahlen auf eine Ingenieursstellenausschreibung in Peking anfallen, haben selbst mit guten Leistungen wenig Chancen, wenn sie nicht etwas Vitamin B an der Hand haben.
Für Kinder aus eher ärmlichen Verhältnissen ist es in China also extrem schwierig sich hochzuarbeiten. Es beginnt bereits im Kindergartenalter, dass sich die Eltern keinen guten Kindergarten mit Vorschulbildung leisten können. Auch die Grund- Mittel- und Oberschule wird aufgrund Geldmangels maximal mittelmäßig ausfallen – und über viele einflussreiche Bekannte verfügen ärmere Chinesen auch nicht gerade.
Doch selbst reiche Chinesen hegen den Wunsch, zu emigrieren. Sie sind überzeugt, dass die Ausbildung in Deutschland und England deutlich besser ist, als in China und möchten daher am liebsten ihre Kinder in diesen Ländern zur Schule schicken.

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Das berühmte rote Tuch
„Hast du etwa vergessen, wie man das macht?“ Meine Gastschwestern blicken mich am Frühstückstisch ungläubig an. Ich blicke etwas erstaunt zurück. Wie, vergessen? Erst dann schimmert mir so langsam, was Sache ist. „Nein, wir haben diese Bänder in Deutschland nicht!“ „Wirklich ???“ Ich nicke. Ist es so unvorstellbar, dass in Deutschland in kaum einer Schule eine Halsbandtragepflicht herrscht? Scheinbar, denn die beiden Mädchen machen große Augen. Jeden Morgen wird von ihnen das rote Stück Stoff um den Hals gebunden. Ein wenig ähnelt es einer kleinen Krawatte. Rot, aufgrund der Flaggenfarbe Chinas wie mir die Familie erklärt – und: in jeder Schule für alle Schüler bis zum Abschluss der Middle School sozusagen am Hals angewachsen. Nur in der High school sieht man „nackte“ Hälse. Das Tuch ist sogar so wichtig, dass sich die Kinder vor Ort ein Neues kaufen, wenn sie es eines Morgens zu Hause vergessen. Die Strafen für ein vergessenes Halstuch müssen also erstaunlich hoch ausfallen. Nachdem dieser Unterschied zwischen Deutschland und China geklärt ist, zeigen mir die beiden Kinder bereitwillig die besondere Bindetechnik ihres Tuches.
Eine Uniform gibt es in der Schule, diese ist aber nur an jedem Montag verpflichten. Dies ist auch der Tag, an dem sich die gesamte Schüler- und Lehrerschaft auf dem Hof versammelt und die chinesische Flagge hisst, während sie der Nationalhymne lauschen. . Leider wird mir noch nicht einmal erlaubt, diese Zeremonie einmal zu besuchen – schade. Bezüglich Uniform kann für diesen Tag abwechseln zwischen drei unterschiedlichen Jacken in verschiedenen Wärmegraden, einem Kleid und einem T-Shirt – Rock -Zweiteiler ausgewählt werden.