Wie das Gewicht eines Elefanten über Reichtum und Macht entscheiden kann

Meine Gastschwester beschwert sich nicht unüberhörbar. Zum zweiten Mal hat sich nun bereits ein Fotograf vor sie auf den Klappstuhl gesetzt, sodass ihr der Blick auf die Bühne versperrt wird. Genervt tritt sie lautstark mit ihrem Fuß auf den Boden und bewegt sich im queitschenden Stuhl übertrieben nach links und rechts. Ich biete ihr schnell den Sitzplatz auf meiner linken Seite an und löse damit das Problem. Gut nur, dass der Zuschauerraum an dem heutigen Abend so leer ist. Was meine Gastschwester jetzt wieder deutlich und ohne Kameraversperrung sehen kann, verfolge ich seit etwa einer Stunde.
Es war nach dem Mittagessen, als meine Gastmutter uns auf einmal eine Planänderung der heutigen Abendgestaltung mitteilte. Sie habe von einer Vorführung von Kindergeschichten gehört und möchte gerne Karten für uns besorgen. Klingt doch ganz nett. Aufgrund von dichtem Verkehr wird das Pünktlicherscheinen schließlich zu einer Hetzjagd, aber als wir uns in die Klappstühle fallen lassen, befindet sich bisher nur eine einzige Person auf der Bühne, die als Geschichtenerzähler verkleidet spielerisch die Einführung gestaltet. Es folgen Szenen mit mit rosa Klitzerbacken geschminkten Schauspielern in wechselnden Kostümen. Die Kulisse bilden Gestelle mit gelben Quadraten, die sich drehen lassen. Immer wieder werden die Bilder und Schriftzeichen, die sich auf der versteckten Seite befinden, umgehängt und die Quadrate gedreht, sodass sich Gebäude, Städte und Elefanten ergeben. Die erste Geschichte handelt vom Auswändiglernunterricht und einem in einen Brunnen gefallenen Mitschüler. Für die zweite Geschichte werfen sich die Schauspieler in Kürbis-, Mais- und Hasenkostüme. Hasen, die einen gefräßigen und faulen Bauern jagen, fleißige Feldarbeiter, die mit ihrem Gemüse reden und ihnen bei Kopfschmerzen und Halskratzen mit ihrer Pflege zu Hilfe eilen… all das macht Lust auf mehr.
Am spaßigsten wird es dann aber erst als wir uns alle im Auto auf der Rückfahrt nach Hause befinden. Nachdem ich stolz zum Ausdruck gebracht habe, die ersten beiden Geschichten verstanden zu haben, muss ich zugeben, dass in der dritten doch deutlich zu viel schnelles Gerede und zu wenig dialogfreies Gespiele stattgefunden hat. Und damit beginnt das Nachspiel. Die Eltern scheinen ein ebenso großes Interesse daran zu haben, mir die Geschichte verständlich zu erklären, wie ich es habe, sie zu verstehen. Daher gebe ich mich nicht mit den wenigen Sätzen Übersetzung zufrieden, die mir meine kleine Schwester als Erklärung liefert und an denen ich erkenne, dass sie selbst in der Erzählung nicht vollkommen durchblickt. Es folgen lange Diskussionen zwischen Eltern und Tochter, von denen ich Wortfetzen verstehe, einige weitere Übersetzungsversuche durch Angel und immer wieder meine Frage: „Warum wollen sie denn das Gewicht des Elefanten wissen?“ Nach einer Weile steigen wir auf eine neue Strategie um: Der Vater versucht mit seinen wenigen Englischkenntnissen das Erklären zu übernehmen und nach ein wenig Amüsement aufgrund fehlender Worte und dem daraus resultierenden Englisch-Chinesisch-Dialogmix habe ich endlich einen Überblick: Ein König gewinnt im Kampf drei Städte. Daraufhin schickt ihm der Herrscher der Verlierer einen Elefanten. Seine Forderung: wenn er das Gewicht des Elefanten nicht herausbekommt, müssen die drei Städte zurückgegeben werden, wenn er das Gewicht ermitteln kann, bekommt er drei weitere Städte geschenkt. Den Rest kann ich mir aus den Ereignissen auf der Bühne erschließen. Es werden unterschiedliche Methoden ausprobiert, den Elefanten zu wiegen, wobei unter anderem Wasser, ein Schiff und Bananen zum Einsatz kommen, bis das Siegerkönigreich es tatsächlich, besonders durch die Hilfe der kleinen Tochter des Herrschers – schafft, auf den Massenwert zu kommen und mit sechs Städten und einem Elefanten als Gewinner hervorgehen.
Doch es ist nicht das erste Mal, dass ich mit chinesischen Spektakeln in Kontakt komme. Am Esstisch hat bspw. besonders die Mutter mir bereits einige Male von Geschichten erzählt. Sei es, weil ich nachgefragt hatte, um was denn die Chinesischhausaufgaben meiner Gastschwester handeln, sei es, weil Litschi zum Verzehr auf dem Tisch bereitstehen und um diese Frucht eine ganz besondere chinesische Legende rankt. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass den Chinesen ihre traditionellen Erzählungen gerade im Vergleich zu Europa doch noch deutlich mehr wert sind. Aber auch europäische Geschichten und Märchen haben bereits seit langem Einzug in die Chinesischen Berähmtheiten gefunden. So eröffne ich meiner geschockten Gastmutter beispielsweise welche Geschichten alle von den Gebrüdern Grimm gesammelt wurden und nicht original aus China stammen und auch wenn man den Kindern die Kopenhagener Meerjungfrau zeigt, reagieren sie begeistert. Selbst wenn sie keine Ahnung haben, wo Dänemark liegt. Ein Merkmal, an dem man Chinesische Geschichen nahezu verlehrfrei erkennen kann: irgendwann kommt ein Drache vor 😊